Die herben Eilande der deutschen Nordsee gelten vielen Inselfreaks mit als die schönsten der Welt. Die Faszination, die von ihnen ausgeht, lässt sich jedoch kaum in Worte fassen. Man muss sie selbst spüren und das geht kaum besser als auf der ultra entspannten Insel Amrum.
Schlappe 297 Stufen führen in engen Korkenzieherwindungen hinauf, dann steht man oben, steht 40 Meter hoch auf der Spitze des Amrumer Leuchtturms und schnauft erst mal so richtig durch. Zählt vor seinem inneren Auge kurz die Stufen nach, gefühlt 3000 waren es ganz sicher. Drei, vier Schnaufer später registriert man, dass hier oben der Himmel nicht mehr ganz so hoch ist, dafür der Horizont noch ein bisschen weiter als unten. Und jetzt ganz genüsslich, ganz tief Luft holen, der Sauerstoff prickelt fast ein bisschen in Nase und Lunge, der zivilisationsferne Nullgeruch von Salzwasser und Schlick, ein Atemzug der alle Sinne weitet.

Ganz Amrum liegt einem zu Füßen, sind ja nur 20 Quadratkilometer Insel. Wohlwollend ließe sich der westwärts dem Strand vorgelagerte Kniepsand – zumindest ist er aber die Hälfte des Tages vom Meer bedeckt – dazurechnen, dann wären wir so bei 30. Andernorts holt sich die See das Land zurück, nicht so von Amrum, der Kniepsand ist gar ein Geschenk dieser Urgewalt. Fast so, als wolle sie die Schöne umgarnen, liebkosen, ihr zeigen, dass sie nicht nur zerstörerische, sondern auch schöpferische Kraft besitzt. Wie ein aus den Fugen geratener Sichelmond breitet sich die Insel so da unten vor einem aus, ihre Attraktivität selbst aus der Leuchtturmperspektive erahnbar: Die Mitte überzogen von heimeligem Wald, die Westseite geprägt von Dünenlandschaft, die es mit der Sahara aufnehmen will.
Saharagleiche Dünen, die 30 Meter hoch sein können
Was von oben so schön überschaubar wirkte, entpuppt sich bei näherer Begehung zwischen Dünen, die 30 Meter hoch sein können, als doch recht unüberschaubar und weitläufig: Plötzlich ist da Sand in unheimlich vielen Gestalten und Formen so weit das Auge reicht. Wären nicht die Bohlenwege, auf denen man über dieses empfindliche Ökosystem federnden Schrittes tagtraumwandelt, so ließe es sich leicht ausmalen, wie man saharagleich durch die Dünen irrt, womöglich immer und immer wieder die eigenen Spuren im Sand kreuzt und schließlich, kurz bevor man in seiner Orientierungslosigkeit vom Wahnsinn gepackt wird, doch erst verdurstet. Vielleicht gehen einem tatsächlich solch abstruse Gedanken durch den Kopf, aber das ist nicht weiter schlimm und wir sind ja gar nicht in der Sahara, es bedeutet eigentlich nur: Keine Ablenkung mehr von irgendwas, du bist angekommen im Hier und Jetzt. Und während man noch über die Eigenarten des Geistes sinniert, liegt auf einmal das silberne Meer dort vorne, alles ist mit einem Mal wieder weit und dehnt und streckt sich bis zur Unendlichkeit aus. Jetzt nur zum Strand hinabsteigen und ihm nordwärts bis zu den Strandkörben in weiter Ferne folgen – das schützende Inselzweitheim.
Der Strandkorb – Kommandozentrale fürs Sein
Als Kommandozentrale für das Sein und Inselerleben darf auf Amrum getrost der Strandkorb angesehen werden. Der klassische Korbbewohner verlässt ihn höchstens im Ausnahmefall, er ist sein Miniaturuniversum, von dem aus er die Füße im Sand vergräbt und einfach nur ist. Und so geht das »Einfach nur Sein«: In den Strandkorb sinken und sinken, tiefer und tiefer, bis der eigene Seelengrund erreicht ist. In Stille auf dem Grund wandeln, jede bisher kaum beachtete dunkle Ecke erkunden. Ins Ich versinken. Kontemplativ, meditativ. Als sportliches Element darf am Strand bereits meist das bloße Verlassen des Korbs durchgehen, nämlich wenn die Brise steif ist und einen schon im Stehen zu den Drachen am Himmel schicken will. Der ungestüme Wind bläst alles weg, befreiend, befreit alles. Der unabwendbare Wind, der so akribisch und beharrlich bearbeitet, was er in die Finger kriegt: das Meer, den Sand, das wie ein wärmendes Fell eines arktischen Tieres über den Dünen liegende Gras. Mal gestreichelt, mal zerzaust vom ewigen Wind. Die zeitlosen Schreie der Möwen, hysterisch, ihre in der hohen Mittagssonne über den Sand rasenden Schatten. In der Ferne über dem offenen Meer eine flimmernde Fata Morgana von Leuchtturm und Land.
Der Wind erzählt auf Amrum meist Geschichten über das Sich verlieren, so wie überhaupt vieles auf Amrum dem guten Zuhörer irgendwelche Geschichten erzählt. Etwa die Grabsteine des Seefahrerfriedhofs in Nebel, in sie sind die Lebensläufe der Familien aufwändig verziert gemeißelt. Und es sind nicht wenige: Die herbe Landschaft formte die Amrumer zu harten Männern, sie waren weit und breit die gefragtesten Seemänner. Der dickste Seemannsgarn ist einem gewissen Hark Olufs zu verdanken. 1724 kaperten Türken sein Schiff auf dem Weg nach Nantes, die Besatzung wurde nach Algier verschleppt und Hark an den Bey von Algier verkauft – er war 15 Jahre alt. Zunächst diente er am Hof als Kaffeeschenker, doch bald schon entwickelte sich mit dem Bey ein Vater-Sohn-Verhältnis und im Laufe der Jahre stieg Hark bis zum Oberbefehlshaber der Kavallerie auf. 1735 schenkte ihm der Bey als Dank für eine gewonnene Schlacht die Freiheit und Hark zog es zurück nach Amrum. Doch statt ihn mit offenen Armen zu empfangen, begegneten ihm die Amrumer mit Misstrauen und vermuteten, er sei zum Islam konvertiert. Obwohl Hark christlich heiratete, blieb er bis zu seinem Tod 1754 ein Fremder in der eigenen Heimat. Möglicherweise geht deshalb die Sage um, sein Geist wandle nächtens zwischen Friedhof und seinem Haus umher.

Bevor man sich nun gruselt und zurück in den Mikrokosmos des Strandkorbs flüchtet, sollte man sich lieber mit einem süßen Schock in Form eines Stücks Friesentorte im altehrwürdigen Friesen-Café verarzten – dieses Stück Torte aus Sahne, Blätterteig, Pflaumenmus und noch mehr Sahne ist einfach nur gigantisch. Und danach das Kapitänshaus Öömrang Hüs aus dem 18. Jahrhundert besuchen, es gewährt Einblick in den unaufgeregten Teil des Seefahrerlebens. Mehr wie Puppenstube denn weitläufiger Kapitänsvilla ist es drinnen, in der Wohnstube niederländische, filigran bemalte blau-weiße Kacheln an der Wand, ein kupferschwarz schimmernder, gusseiserner Kanonenofen und nebenan die Alkoven mit Kurzbetten. Laut anwesender Museumsdame schliefen die alten Öömranger in aufrechter Position, denn der Legende nach fürchteten sie, Gevatter Tod hole sie im Liegen. Sie lächelt ein wenig schief – als sei selbst ihr der schräge Aberglauben ihrer Vorfahren nicht ganz geheuer.


Genug jetzt mit den spukigen Geschichten, lässig entspannt aufs Fahrrad geschwungen und ab durch den Wald Richtung Norddorf. Fahrradfahren ist auf Amrum ebenfalls keine schweißtreibende Pedaltreterei, sondern meditative Übung in Bewegung. Hat man das erst erkannt, kann das Rad gar nicht mehr langsam genug rollen. Und so rutscht man immer weiter aus der Zeit, gleitet über in eine Parallelwelt, schleicht geradezu durch den Wald, biegt hier ab, biegt dort ab, nur, um nicht zum Ende zu gelangen.
Steigt an der Vogelkoje ab, wundert sich über verwunschene Birkenbestände, die in den absonderlichsten Verrenkungen und Verkrümmungen einen märchenhaften See umringen und ehe man sich’s versieht, ist man abermals hinausgewandert in die Dünen. Stößt dort auf ein steinzeitliches Hügelgrab, das nur noch vage die Frage aufwirft, »warum hier?« Denn beantworten lässt sie sich im Grunde leicht: Weil das ein verdammt schöner Platz zum Tot sein ist. Irgendwann gelangt man dorthin, wohin man zwangsläufig kommen muss, unablässig zieht es einen an: das Meer. Und da wird es mit den Wellen an den Strand geschleudert, kriecht über den Sand heran, bis es schließlich den Fuß fest umklammert: das Gefühl, man bekomme von all dem gar nicht mehr genug. Nicht umsonst heißt es: einmal Amrum, immer Amrum.
Einer dem die Welt nicht genug war, der heimgekehrt ist, weil er von Insel und See ebenfalls nicht genug bekommen konnte, ist Dark Blome. Wattführer wurde er hier, um Besuchern sein Amrum und die Geheimnisse des Wattenmeers näher zu bringen. »Wo sonst auf der Welt kann man außerdem stundenlang auf Meeresboden wandern?« Dem ist nichts mehr hinzuzufügen und damit ist Darks Vorstellung der eigenen Person beendet.
Das Wattenmeer, ein riesiger unberührter Raum
Norddorf, 9.30 Uhr, am Himmel ziehen tief schiefergraue Regenwolken heran. Aber Dark wischt die mit der Bemerkung, das Wetter für die Wattwanderung zur Nachbarinsel Föhr könne schlechter sein, fröhlich beiseite, schultert die Grabharke mit dem Beifall auslösenden Scherz, die trage er nicht wegen den Föhrern, sondern um aus dem Schlick Getier für uns auszugraben, und marschiert Richtung Nordspitze los. Das Wattenmeer, ja das sei neben den schwer zugänglichen Gebieten der Alpen der größte noch unberührte Naturraum in Europa, einzigartig auf der ganzen Welt und ja, deshalb nicht nur Nationalpark sondern seit ein paar Jahren zudem Weltkulturerbe. Hört ihr den Kibitz? Dort drüben fliegt er, da der Säbelschnabler, dort die Lachmöwe, der Rotschenkel. Die Wattvögel sind schon ziemlich erstaunlich: Machen hier im Herbst Rast, manche von ihnen kaum schwerer als ein Snickers, und genau diese futtern sich das zusätzliche Gewicht eines Snickers’ ran, bevor sie schließlich in einem Schwung 10.000 Kilometer in ihr Winterhabitat fliegen.
Etwa eine Stunde Dark-Blome-Entertainmentprogramm später: Selbstverständlich sind im Watt auch jede Menge Tiere verborgen, stößt die Harke in den Schlick und holt ein großes Stück heraus. Wir stehen mitten im Nirgendwo, zwischen den Welten, Erde flach und braun, Himmel flach und grau, es regnet. Dark hat einen Wattwurm aus dem Schlick rausgepult und philosophiert über die 90 Pobacken des Wurms. Seine Stimme driftet langsam in den Hintergrund, als ob jemand die Lautstärke an der Stereoanlage leiser dreht. Ein angenehmer Schwindel breitet sich im Körper aus, nichts ist mehr zwischen dir und diesen unbegreiflich überdimensionalen Elementen.

Auszeit auf Amrum
-
Auf die Insel kommen
Amrum ist mit der Fähre (Fahrdauer 90 oder 120 Minuten) mehrmals täglich von Dagebüll (alternativ Schlüttsiel) aus zu erreichen. Will man das Auto mitnehmen, sollte man reservieren. Ein Auto ist aber auf Amrum nicht wirklich nötig, mit Bus oder Fahrrad ist die Insel bestens zu erkunden.
-
Chillen und Wattwandern
In Norddorf bieten sich als sehr gute Unterkünfte etwa das Romantik Hotel Hüttmann oder das Hotel Seeblick an. Wattwandern zwischen Amrum und Föhr mit dem Inselläufer Dark Blome.
-
Mehr Inselwissen
Die Website von Amrum gibt viele Tipps – lohnenswert sind etwa Schiffsrundfahrten, Ausflüge zu den Halligen – sowie Infos zur Reiseplanung. Allgemeine Reiseinfos über die Nordsee und Tipps für weitere Erlebnisse gibt es unter nordseetourismus.de. Nützlicher Führer ist das Reise-Taschenbuch »Sylt – Föhr – Amrum« aus dem Dumont Reiseverlag.