Das Geheimnis am See

Michigan steht im Indian Summer so was von in Flammen. Unschuldig, romantisch und einfach zum in die Blätter werfen. Schön am Lake Michigan entlang nach Norden werden die Bäume immer bunter und die Natur immer größer und wilder.

Created by: Ingo Hübner

Diese Geschichte beginnt in meinem Kühlschrank. Ja! Richtig gelesen: In meinem Kühlschrank! Denn jeden Morgen, wenn ich ihn öffne und nach den Marmeladengläsern greife, drängt sich dieser zuckersüße Erinnerungen-ins-Gedächtnis-Rufer – Cherry Apple Butter aus Michigan – ins schläfrig unterzuckerte Aufmerksamkeitszentrum. Ein Spätherbststurm peitscht den Regen prasselnd ans Fenster. Während ich rausstarre und mir nebenbei den Toast mit Cherry Apple Butter bestreiche, drifte ich wieder zu diesem Moment zurück, zu diesem perfekten Moment an einem vom Herbst perfekt durchchoreografierten Tag. Nein, Tagen. Nein, nicht endenden Zeitschleifen!

Lichtstrahlen tasten sich behutsam durch die nass glänzenden Ahornbäume. Sphärische Nebelschleier schweben ganz leicht zwischen ihren Stämmen, wiegen die Welt in Unschärfe. Eine Szene wie aus Der Letzte Mohikaner. Minuten später stellt die Sonne scharf. 150 Meter über dem Lake Michigan plötzlich supergroßes Strandfeeling, Sanddünen und großes Kino. Am Aussichtspunkt auf der größten Düne, der Sleeping Bear Dune. Landeinwärts bedeckt der Wald alles, so weit der Blick reicht. Steht in herbstlich warmen Flammen, Zimt, Kürbis, Zitrone, Pausbackenrot. Was für eine Aussicht, was für ein schreiender Kontrast. Nach Westen Dünen und See, nach Osten Herbstlodern in dichtem Blätterdach.

Überhaupt ist dieses Michigan im Herbst und auch generell ziemlich abgefahren und unerwartet

Das Ganze ist der ziemlich abgefahrene aber autofreie Höhepunkt des Pierce Stocking Scenic Drive, der sich einige Kilometer durch abwechselnd Wald und Dünen im Sleeping Bear Dunes National Lakeshore Schutzgebiet schlängelt. Überhaupt ist dieses Michigan im Herbst und auch generell ziemlich abgefahren und unerwartet. Ist doch immer dieses rostige und zivilisationsferne Detroit als Vorstellung im Hinterkopf, die Michigan dann in der Realität wieder vollkommen auf den Kopf stellt.  

»Down on Mainstreet« folgten wir Bob Seeger durch Ann Arbor, der darin über seine Highschool Zeit in der Studentenstadt sang und landen natürlich in einer Bar und fünf bis zehn Drinks später auf sehr schönen krummen aber vermutlich unnötigen Umwegen im Hotelzimmer. Ann Arbor ist doch wirklich recht schnuckelig mit seinen 50.000 Studenten. Der Kern mit Backstein- und Art-Déco-Fassaden und gleich daneben der Campus. 1837 ist die Uni gegründet – im selben Jahr wie der Bundesstaat Michigan – und so einige Gebäude auf dem weitläufigen Gelände triefen nur so vor Altehrwürdigkeit und Pathetik. Oder sind wir in Cambridge aufgewacht? Oder sind wir in einen Harry Potter Film geraten? Man muss sich schon mal kneifen mit dem Restalkohol von letzter Nacht. Der weicht dann schnell einem überwältigenden Staunen, als wir durch einen kathedralenartigen Bibliotheksleseraum schweben – so sagt es zumindest die Erinnerung. Nebenbei unterhält die Uni eine der gewichtigsten College-Football-Mannschaften des Landes, zumindest was die Stadiongröße mit Platz für 115.000 Zuschauer angeht. Beim Heimspiel am Wochenende ertrinkt Ann Arbor auch regelmäßig in den gelb-blauen Vereinsfarben.

Die Route 22 – eine Herbstfarben-Highlight-Landstraße

Der verheißungsvolle Ruf des mächtigen Lake Michigan lockte uns weiter nach Westen und bei Manistee stießen wir auf die Route 22 nach Norden. Eine typische Herbstfarben-Highlight-Landstraße mitten durchs Kirschenland mit weiß gestrichenen viktorianischen Dörfern, schrulligen Museen, die einen liebevoll staubigen Blick in ein früheres unschuldigeres Amerika gewähren, Cafés und Geschäften, in denen man die klebrig-süßen Resultate der Obstwirtschaft kosten und natürlich kaufen muss, von Geistern heimgesuchten Leuchttürmen, den See überragenden Aussichtspunkten. Womit wir wieder auf den Sleeping Bear Dünen angekommen sind. Und das hat so was von Ankommen, dass man sich die Klamotten vom Leib reißen und in den See springen will, ein letzter Sehnsuchtszucker Richtung Sommer. Aber das lässt du mal lieber bleiben, denn den 150 Meter runter ans Ufer würde ein nicht enden wollender Aufstieg folgen. Besser woanders die überschüssige Energie loswerden und schon geht es weiter auf den Empire Bluff Trail – schön treppauf treppab durch still wogenden Wald bis zum nächsten überragenden Blick über den See. Todsicher ist hier jemandem zum ersten Mal der Klischeespruch »In Amerika ist alles viel größer und weiter« über die Lippen gekommen.

Ganz beschaulich fühlt es sich dagegen auf dem Finger an, der sich weiter nördlich in den See krümmt. Das schwingt schon im Namen Old Mission Peninsula mit. Hier wachsen Chardonnay, Riesling, Pinot Noir und die Bäume stehen träge ausladend Spalier am Straßenrand. An der Landspitze dann ein Unikat, wie es nur noch äußerst selten zu finden ist. Ein General Store, herausgefallen aus der Zeit. Drinnen riecht es alt und wild, das uralte Dielenholz knarzt behäbig, ein Kanonenofen vertreibt im Winter die bittere Kälte und es würde kaum verwundern, käme ein Trapper mit Biberfellmütze durch die Tür und verlangte Trockenfleisch und Munition.

Traverse City, die selbsternannte Kirschenhauptstadt der Welt, ist dagegen fast wie ein kleiner Kulturschock. Immerhin gelingt mir noch in einem rustikalen Burgerladen ein Selfie zusammen mit dem grinsenden Elchkopf – echt jetzt – an der Wand. In der sehr adretten »Backsteinaltstadt« zähle ich ungefähr 50 Kunstgalerien und diesmal sogar zwei fantastische Art Déco Kinofassaden. Naja, Michael Moore wohnt schließlich irgendwo dort draußen jenseits der Stadtgrenzen und hat angeblich vor über zehn Jahren ein mittlerweile weithin bekanntes jährliches Kinofestival ins Leben gerufen. Mensch, das ist hier alles so hip, man glaubt es gar nicht. Und um der Hippnes die Krone aufzusetzen, chillen wir am nächsten Tag ganz lässig auf dem stadteigenen Boardman Lake mit dem SUP-Board rum. Nein, das war jetzt gelogen, wir sind ganz konservativ im Kajak gepaddelt.

Dörfer aus einem Bilderbuch für Glückseligkeit

Immer weiter nach Norden am See entlang, von der M22 auf die M119, eine der schönsten, ach was, die schönste Herbstfarben-Highlight-Landstraße. Das hatten wir doch schon mal! Sie trägt obendrein den bezaubernden Beinamen »The Tunnel of Trees«. Und jetzt kommt wirklich alles zusammen, die lichterloh lodernde Farbsinfonie der Bäume, Dörfer aus einem Bilderbuch für Glückseligkeit, strahlend weiß wie in einer Colgate Werbung, in den Vorgärten gigantonomische Kürbisse in Gesellschaft mit winkenden Skeletten und anderem Halloweenungetüm und über allem ein theatralisch grauer sonnendurchfluteter Himmel. Das glückselige Herbstidyll – und es schickt sich an ähnlich wie Neuengland zu sein, nur jungfräulicher und mehr laid back.

Auf der Upper Peninsula macht das kleinräumige Idyll Platz für eine Wildnis schier unendlichen Ausmaßes

So laid back entgeht uns fast die Brückenüberquerung auf die Upper Peninsula und als ob jemand einen Schalter umgelegt hätte, macht das kleinräumige Idyll Platz für eine fast noch im Auto greifbare Wildnis unendlichen Ausmaßes. Auf dem endlos meditativ geraden Weg nach Paradise weiter über die unaussprechlichen Tahquemenon Wasserfälle bis zur Pictured Rocks National Lakeshore verliert sich das Ich mehr und mehr in dieser ungezähmten Weite. Das hier oben ist nach wie vor Pionierland, an jeder Tankstelle beanspruchen Angler- und Jägerbedarf den meisten Regalplatz, Sprüche wie »May the forest be with you« wünschen einem auf Sweatshirts und Autos das nötige Glück und überhaupt tauscht jeder der hier wohnt im Winter das Auto gegen ein Schneemobil. Schon vor 150 Jahren, als die Holzindustrie versuchte die Gegend zu zähmen, blieb es beim Versuch. Diejenigen, die waldeneske Bestrebungen in sich spürten, schlugen sich damals einfach in die Wälder und zimmerten eine Hütte zusammen. Das war’s.

Und so zeugen hauptsächlich Namen wie Miner’s Castle – ein hünenhafter Felsen am Lake Superior – von der geisterhaften Vergangenheit in der Expeditionen den tief in den Wäldern lebenden Ureinwohnern, die sich jederzeit in Tiere verwandeln konnten, möglicherweise einen Besuch abstatteten oder gleich wieder am Seeufer umkehrten. Heute baden wir gänzlich unbedarft an einem Wildnistraumstrand und wandern gespannt an diesem wunderbaren Miner’s Castle herum. Warten auf den Sonnenuntergang, der die fahlen Kalkfelsen glühen lässt. Lesen von der mythischen Bedeutung, die der Ort für die Anishnabeg-Ureinwohner hatte. Und spinnen die Geschichte weiter: Nachts in Munising im Motel, schreckt mich ein Klopfgeräusch hoch. Unter der Türschwelle dringt Nebel herein, der vom Lake Superior durch die Straßen wabert. Und da klopft es wieder, diesmal deutlich an der Tür. Das müssen die Ahnengeister der Anishnabeg sein, die sich im Schutz des Nebels aus dem See erheben.

Wild und frei in Michigan

  • Ankommen und Rumkommen

    Verschiedene Airlines fliegen Detroit an, direkt geht es etwa mit Delta. Einen günstigen Mietwagen gibt es z. B. bei Auto Europe.

    Wer sich um möglichst wenig kümmern will – auch vor Ort – kann für die Reisebuchung auf einen Veranstalter zurückgreifen. Canusa etwa bietet eine individuelle Routenplanung an.

  • Vorbereitung

    Unter michigan.org findest du jede Menge Hilfreiches und Ideen für die Reiseplanung. Den Roadtrip auf der M22 findest du hier.